Prof. Dr. Peter Brünger
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik
Musikschule – Brücke zwischen Mensch und Musik
Meine Damen und Herren,
Musikschulen gehören zu den bedeutenden Institutionen außerschulischer musikalischer Bildung. Sie definieren sich als pädagogische Bildungsinstitution mit dem Ziel, auf breiter Basis die musikalischen Fähigkeiten von Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen zu wecken und zu fördern. Entsprechend der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Pädagogik, die im alten Griechenland den Knabenführer meinte, der das Kind aus dem Elternhaus in die Schule und von dort zurück nach Hause geleitete, besitzen die Lehrkräften einer Musikschule eine Brückenfunktion zwischen den Menschen und der Musik. Einen Brückenpfeiler bilden demnach die Musikinteressierten, deren eigener Wunsch es ist, ein Instrument zu erlernen, die eigene Stimme als Ausdrucksmedium zu entdecken und zu schulen, mit Anderen gemeinsam im Ensemble zu musizieren, sich in musiktheoretischen Fragen zu bilden oder – und hier spreche ich eine Besonderheit des Eichstätter Musiknetzes an – mit Hilfe eines fachlich fundierten musiktherapeutischen Angebots Körper und Seele in Einklang zu bringen. Den gegenüberliegenden Pfeiler bildet die Musik als Ausdrucksmedium und Kulturgut. Beide Brückenpfeiler sind Sinnbild der Doppelseitigkeit allen Lernens, in unserem Fall des musikalischen Lernens: Musikschüler setzen sich mit der Welt der Musik auseinander: mit einem Lied, einem Tanz, einem Musikstück; gleichzeitig entdecken, entwickeln und differenzieren sie ihre eigenen musikalischen Fähigkeiten: die Fähigkeit zu singen, spielen, tanzen, über Musik zu reflektieren.
Entsprechend den Komponenten diese Geflechts von erstens den Menschen, die das musikpädagogische Angebot einer Musikschule in Anspruch nehmen, zweitens der Musik als zentralem Medium musikalischen Lernens und drittens den Lehrpersonen, die als Brückenbauer, d.h. als Vermittler zwischen beiden fungieren, möchte ich meinen kurzen Vortrag gliedern, d.h. mich mit den Menschen, der Musik und den Lehrpersonen beschäftigen.
Ich beginne also mit der Frage nach denjenigen, die eine Musikschule besuchen und nehme zunächst deren musikalische Voraussetzungen in den Blick. Musikalische Fähigkeiten sind einerseits das Ergebnis von genetischen Anlagen, die wir Menschen von Geburt an in uns tragen und andererseits den Einflüssen der Umwelt, der Familie, dem Kindergarten, der Musikschule und der allgemein bildender Schule, aber auch den Einflüssen de Medien. Sie gemeinsam bilden die individuelle Motivation und das Potenzial, Musik erleben und verstehen zu wollen, sich musikalisch mit Stimme, Instrument und Körper ausdrücken, generell: sich mit Musik auseinanderzusetzen zu wollen und zu können.
In unserer Alltagssprache verwenden wir oft den Begriff der musikalischen Begabung zur Bezeichnung von Menschen, die überdurchschnittliches musikalisches Talent besitzen. Wir Pädagogen versuchen diesen eher unklaren Begriff der musikalischen Begabung, über den auch in der Wissenschaft keine einheitliche Meinung herrscht, zu vermeiden, weil er Menschen nach Kategorien einteilt, deren Trennschärfe zweifelhaft ist, vor allem aber, weil er suggeriert, dass es Menschen ohne jede musikalische Begabung gibt. Tatsächlich aber gibt es keine völlig unmusikalischen Menschen, genauso wenig, wie es keine unintelligenten Menschen gibt. Jeder Mensch besitzt ausbildungsfähige und ausbildungswürdige musikalische Potenziale, so wie jeder Mensch auch Intelligenz und geistige Fähigkeiten besitzt.
Ein Beispiel, über das in wissenschaftlichen Publikationen vielfach berichtet wurde, ist der inzwischen berühmt gewordene Fall des Mädchens Samantha: Samantha ist schwer autistisch gestört und geistig behindert und hat keinerlei sprachliche Kompetenz erworben. Wer hätte erwartet, dass dieses Mädchen ein intensives Verhältnis zur Musik besitzt! Samantha kann Lieder singen, aber nicht sprechen. Nur in ihren eigenen Gesängen gibt sie sprachähnliche Laute von sich. Kann man Samanthas Umgang mit der Musik in Kategorien von begabt oder unbegabt erfassen? Ist Samantha unmusikalisch? Könnte Samantha von dem Besuch einer Musikschule persönlich profitieren? Ja, sie könnte, wenn sie an eine Lehrkraft geraten würde, die sie dort abholt, wo sie sich mit ihren musikalischen Fähigkeiten befindet und die sie von hieraus auf ihrem weiteren Weg zur Musik begleitet.
Meine Damen und Herren,
die Voraussetzungen für musikalisches Lernen manifestieren sich in vier Grundfähigkeiten, sich 1. zur Musik bewegen zu können und sich von Musik innerlich bewegen zu lassen, sich 2. mit Stimme, Instrument und Körperbewegung auszudrücken, 3. seine musikalische Umwelt und sich selbst wahrnehmen zu können sowie 4. mit anderen Menschen im Medium der Musik kommunizieren, d.h. gemeinsam musizieren zu können. Diese Fähigkeiten der Bewegung, des Ausdrucks, der Wahrnehmung und der Kommunikation, ohne die einerseits menschliches Leben undenkbar ist und die gleichzeitig Voraussetzung für jegliches musikalisches Erleben und Handeln sind, werden in der Musikschule durch die Arbeit an Stimme und Instrument, durch das emotionale Erleben der Musik sowie im musikalischen Zusammenspiel mit anderen individuell und kontinuierlich gefördert und differenziert. Dabei bezeichnet der Begriff der Förderung analog zum Bergbau den Prozess der Entdeckung und Entfaltung des musikalischen Potenzials. Die Förderung musikalischer Fähigkeiten ist nicht nur für künftige Berufsmusiker wichtig, sondern für alle Menschen, die Freude an der Musik und am praktischen Musizieren haben. Das bedeutet: Eine Musikschule leistet zunächst einmal musikalische Breitenarbeit. Darüber hinaus muss sie bereit sein, Menschen mit überdurchschnittlichen musikalischen Dispositionen individuell zu fördern.
Zu fragen ist nun, in welchem Alter die musikalische Arbeit, d.h. der Besuch einer Musikschule beginnen sollte? Wie für alles Lernen, so gibt es auch für den Erwerb musikalischer Fähigkeiten so genannte sensible Phasen. In Bezug auf musikalisches Lernen besteht Einigkeit, dass Frühförderung in der Vor- und Grundschulzeit für die Gesamtentwicklung der Persönlichkeit besonders prägend ist und zu nachhaltigen Ergebnissen für instrumentales und vokales Lernen führt.
Kurz gesagt: Je früher die Förderung einsetzt, umso besser. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass der alte Satz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“ ein Mythos ist. Wie sonst ließe sich erklären, dass viele Erwachsene, wenn auch nicht mehr in höchster Perfektion, so doch subjektiv gewinnbringend mit dem Instrumentalspiel beginnen. Indem sie durch musikalische Betätigung die Dimensionen der Musik in ihrer Tiefe und Breite für sich erfahrbar machen, bringen sie nicht selten an sich selbst ganz neue Saiten zum Schwingen, erfahren einen positiven Kontrast zum alltäglichen Berufsleben und genießen auf bisher ungeahnte Weise eine Bereicherung durch Musikkultur.
Werfen wir einen Blick auf den zweiten Brückenpfeiler, die Musik. Die Gestalt einer Musik entfaltet sich in der Zeit (durch Metrum, Takt und Rhythmus) und im Klangraum (durch Melodie, Harmonie und Klangfarbe). Diese auch als gestaltete Zeit zu bezeichnende Musik, die sich als Spannung bzw. Balance zwischen den Polen Stimulierung und Strukturierung, Entgrenzung und Grenzsetzung, Emotionalität und Rationalität entfaltet, wird in besonderer Weise für den Musizierenden beim Instrumentalspiel, Singen und Tanzen wahrnehmbar. Die Stimmigkeit der Musik, d.h. die Angemessenheit des eigenen Musizierens hinsichtlich der musikalischen Vorlage, diese Stimmigkeit, die nach vielen Wiederholungen zunehmend als die eigene erfahren wird, ruft Wohlbefinden, Freude und Spaß an der Sache hervor. Konkret: Um sich durch Musik ausdrücken zu können, muss der Gitarrist, der Schlagzeuger, der Pianist die Struktur und Gliederung der Musik wahrnehmen und im Verlaufe seines Musizierens die eigene Spieltechnik und -motorik der Musik anpassen. Wenn es bei diesem komplexen Zusammenspiel sensomotorischer Funktionen und ästhetischer Gestaltungsversuche nach vielen Wiederholungen gelingt, die der Musik immanenten Ausdrucksgestalten mit den eigenen individuellen Ausdruckswünschen in Einklang zu bringen, dann stellt sich unter Umständen ein, was die Psychologen mit Flow-Erlebnis und die Musikpädagogen als „Lust, sich musikalisch auszudrücken“ bezeichnen, das Gefühl, das die Zeit aufgehoben ist und das Stück sich selbst spielt.
Eine Reduzierung des Brückenpfeilers Musik auf die Frage des musikalischen Materials bliebe selbstverständlich nur an der Oberfläche dessen, was Musik für den Menschen bedeuten und was durch die Musikschule vermittelt werden kann. In dem Maße, in dem der technische Umgang mit Stimme, Instrument und Körper selbstverständlicher und differenzierter wird und früher oder später die Literaturphase der „Kleine(n) Stücke Großer Meister“ hinter sich lässt, können sich mehr und mehr die Geheimnisse des musikalischen Kunstwerkes eröffnen. Sie stiften kulturelle Identität und Orientierung, ermöglichen Erlebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen, bieten Lebenshilfe, erzeugen aber auch Provokationen, Anstöße, An- und Aufregungen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person und mit den Dingen der Welt. Sie vermitteln auf diese Weise geistigen, seelischen und therapeutischen Gewinn und stellen in einer primär rational und auf ökonomische Verwertungszusammenhänge reduzierten Welt wertvolle persönliche Nischen und Rückzugsmöglichkeiten dar. Bei der musikalischen Auseinandersetzung etwa mit Schuberts „Leiermann“ geht es eben nicht nur vordergründig um die notengetreue Wiedergabe dieses letzten Liedes aus Schuberts Winterreise. Es geht um die Entwicklung einer eigenen Haltung gegenüber demjenigen, der mit der Frage „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ die Bereitschaft zeigt, sein Leben fortan mit einem Gefährten zu teilen, d.h. sein persönliches Leben zu verändern, Gewohnheiten aufzugeben. Eric Claptons Ballade „Tears in Heaven“, in der er den Tod seines 4jährigen Sohnes verarbeitet, wird für den Musiker nicht einfach nur ein ruhiges, Wärme ausstrahlendes Stück Musik sein, sondern letztlich zur persönlichen emphatischen Auseinandersetzung mit Menschen führen, die einen persönlichen Verlust zu beklagen haben.
Meine Damen und Herren,
ich nehme das für meinen Vortrag gewählte Bild der Brücke ein letztes Mal auf und komme schließlich zur tragenden Verbindung zwischen den beiden beschriebenen Pfeilern Mensch und Musik, den Lehrkräften einer Musikschule. So wie die Verstrebungen einer Brücke maßgeblich zu ihrer Statik und Tragfähigkeit beitragen, so entscheidet die Qualität der musikpädagogischen Arbeit der Lehrkräfte über die Frage, wie weit es gelingt, Mensch und Musik gerecht zu werden oder, wie Hartmut von Hentig es ausdrücken würde, den Menschen zu stärken und die Sachen zu klären. Betrachtet man die Spannbreite ihrer Aufgaben, so werden die erheblichen Anforderungen an eine Musikschullehrkraft offensichtlich: Ihr Schülerspektrum reicht vom Vorschulkind, für das sie auf kindgemäße Weise verschiedene Wege zur Musik eröffnen muss, über den Sechzehnjährigen, dessen Motivation es in der schwierigen Pubertätsphase mit viel Empathie und methodischer Kompetenz zu erhalten gilt, den jungen Erwachsenen, der aufgrund kleiner Fortschritte in seiner instrumentalen Entwicklung ständigen Zuspruch benötigt, bis hin zum Senioren, dem ein musikalisches Angebot unterbreitet werden muss, das seinen speziellen Bedürfnissen entspricht. Es gilt einerseits, dem Musikschüler, der Musik als geliebtes Hobby betreibt, gerecht zu werden, und andererseits verantwortungsbewusst die musikalische Arbeit mit demjenigen zu gestalten, dessen Ziel es ist, Musik zu studieren und eine professionelle Karriere einzuschlagen.
Eine Herausforderung, die allein mit künstlerischer Expertise, musikwissenschaftlich-musiktheoretischer Kompetenz sowie einem gerüttelt Mass an pädagogischem Geschick gemeistert werden kann.
Musikschularbeit zeichnet sich durch besondere Formen menschlicher Kommunikation aus: Anders als es dem Musikunterricht der allgemein bildenden Schule möglich ist, kann der Unterricht, vor allem der Einzelunterricht, durch persönliche Ansprache, Verständnis und Wohlwollen, insgesamt durch die Gestaltung eines gedeihlichen Klimas zur individuellen Förderung der Schüler beitragen. UND: eine Musikschule, zumal wenn sie wie das „Musiknetz“ eine überschaubare Größe besitzt, wird sich als Lebensraum verstehen, nicht als Lernmaschinerie, deren Ziel es ist, in Fließbandproduktion einen möglichst großen Schüler-Output zu generieren. Auf diese Weise kann eine Musikschule jedem Schüler – egal ob Vorschulkind, Schulkind, Jugendlicher, Erwachsener, psychisch belasteter Mensch aufbauend auf den je eigenen biographischen Voraussetzungen Chancen eröffnen, sein Leben selbstbestimmt durch Musik zu bereichern.
Meine Damen und Herren, mein Kollege Christoph Richter fasst zusammen, wozu Musik uns dienlich sein kann:
„Menschen brauchen und gebrauchen Musik zum Träumen; um Einsamkeit zu überspielen – oder im Gegenteil – zu füllen; um ihren Körper zu fühlen und ihn als Ausdrucksmittel zu benutzen; um Atmosphäre zu schaffen oder in sie einzutauchen; zum Meditieren, zum Wahrnehmen und Ausleben von Stimmungen und Gefühlen; für eine bestimmte Art des Denkens und des Vorstellens; für Versuche, das Spiel ästhetischer Strukturen zu erleben, zu schaffen und zu verstehen; um Gemeinschaft zu bilden und zu erleben.“
Möge das Musiknetz auch in Zukunft seinen Beitrag leisten, um Menschen auf ihrem Weg zur Musik und zu sich selbst zu begleiten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!